“Ich werde im Gefängnis sterben”
Nawalnys Autobiografie überwindet die Grenzen des Kremls
22.10.2024, 04:14 Uhr
Artikel anhören
Als entschiedenster Gegner Putins wurde Nawalny zu 30 Jahren Straflager verurteilt, verbrachte jedoch nur drei davon hinter Gittern, bevor er unter mysteriösen Umständen verstarb. In seiner Autobiografie präsentiert er sich als ein Mensch voller Lebensfreude, der sich der Realität seines Schicksals bewusst war.
Julia Nawalnaja betrachtet die Autobiografie “Patriot” als Erbe ihres Mannes Alexej Nawalny, des herausragendsten Oppositionellen in Russland. Obwohl das Buch nicht in Russland veröffentlicht wird, erscheint es auf Russisch und in 19 weiteren Sprachen, einschließlich Deutsch. Nawalnaja unterstreicht, dass es ein bedeutendes Zeugnis für den Mut des Oppositionellen und seinen Glauben an eine bessere Zukunft für Russland darstellt. Sie hat das über 500 Seiten umfassende Werk, das zahlreiche Familienfotos sowie politische Auftritte enthält, nach Nawalnys Tod selbst vollendet.
Nawalnaja betont, dass Alexej Nawalny selbst in den dunkelsten Momenten seiner Haft – trotz Folter und Krankheit – seinen Humor und Optimismus bewahrte. Wer seinen politischen Werdegang verfolgt hat, wird viele Kapitel seines Lebens wiedererkennen, ebenso wie seine scharfe Kritik im Rahmen öffentlicher Auftritte.
Seine Autobiografie bietet jedoch auch persönliche Einblicke in das Leben eines Mannes, der unermüdlich ein korruptes System entlarvte, während seine große Liebe zu seiner Frau Julia und seinen Kindern Dascha und Sachar ihn trugen. In einem Video äußert Nawalnaja, dass sie beim Vollenden des Buches oft lachen und weinen musste.
Bedeutender Kämpfer gegen Korruption
Nawalny beschreibt, wie er als Sohn eines Offiziers in der zerfallenden Sowjetunion über das Jurastudium und seine Tätigkeit als Anwalt zum wichtigsten Antikorruptionskämpfer wurde. Die Biografie dient nicht nur als unterhaltsames Zeugnis eines politischen Zeitzeugen, sondern bietet auch Einblicke in Nawalnys Jugendsünden und seine Zusammenarbeit mit Rechten, um gegen den Kreml zu kämpfen.
Das Buch fungiert als Nachschlagewerk über politische Basisarbeit in einem autoritären Regime. Nawalny, international ausgezeichnet, baute ein umfangreiches Netzwerk auf und brachte die Mächtigen durch seine Anti-Korruptions-Stiftung zur Rede, bis sein Gegner immer mehr zur Gegenwehr überging. Nawalny erzählt von den vielen Angriffen auf ihn, deren dramatischster der Giftanschlag mit Nowitschok 2020 war.
Er überlebte diesen Anschlag nur knapp und schockiert die Leser mit Schilderungen seines Kampfes ums Überleben im Flugzeug sowie seines langsamen Erwachens aus dem Koma in Berlin, wo er auch von der Kanzlerin empfangen wurde. Der als Kriminalfall weltweit beachtete Vorfall war letztlich auch der Auslöser für sein Buchprojekt.
Rückkehr nach Russland trotz Lebensgefahr
Nawalny beantwortet die immer wiederkehrende Frage, warum er trotz drohender Inhaftierung und Lebensgefahr von Berlin nach Moskau zurückkehrte. Er betont, nur so seinen Glauben an Russland zu beweisen. Seine Biografie beleuchtet den schwierigen Balanceakt, für politische Überzeugungen das eigene Glück und Leben zu opfern.
“Mir war von Anfang an bewusst, dass ich im Gefängnis sterben werde”, sagt er an einer Stelle und an anderer: “Ich werde den Rest meines Lebens im Gefängnis verbringen und dort sterben. Keiner wird da sein, um sich von mir zu verabschieden.”
Nawalny starb am 16. Februar im Straflager “Polarwolf” in der Arktisregion unter ungeklärten Umständen. Die Behörden weigerten sich tagelang, seine Leiche herauszugeben, bis seine Mutter in einem Appell die Situation öffentlich machte. Letztendlich wurde Nawalny am 1. März unter großer Anteilnahme in Moskau beerdigt.
Buch als “Denkmal” für den Oppositionsführer
Nawalny zeigt sich in seinem Buch im Einklang mit seinem Leben. Er glaubt, in seiner kurzen Zeit viel bewirken zu können, mehr als viele andere. “Falls sie mich endgültig beseitigen sollten, wird dieses Buch mein Denkmal sein”, sagt er.
Dieses Buch soll nicht das einzige Vermächtnis bleiben. Julia Nawalnaja hat bereits kurz nach seinem Tod erklärt, seinen politischen Kampf weiterzuführen. Während sie und die Kinder im Ausland leben, setzt sie sich bei Begegnungen mit Staatsführern immer wieder für den notwendigen Widerstand gegen Putins Krieg gegen die Ukraine und für die Freilassung politischer Gefangener ein.
Obwohl Nawalnys Anti-Korruptions-Stiftung in Russland als extremistisch eingestuft ist, setzen die wichtigsten Vertreter seines Teams ihren Kampf im Ausland fort, wenn auch mit weniger Schlagkraft als zuvor. Politische Analysten hatten befürchtet, dass der Verlust Nawalnys die Opposition in eine Krisensituation stürzt. Monate nach seinem Tod zeigt sich das Lager der Kremlgegner jedoch als gespalten wie nie zuvor.