FAQ
Der Bundesgerichtshof prüft das Urteil gegen eine ehemalige Sekretärin im NS-Konzentrationslager Stutthof. Sie wurde 2022 schuldig gesprochen. Warum die Aufarbeitung erst jetzt erfolgt und dennoch von Bedeutung ist.
Vorgeschichte des Verfahrens
Wegen Beihilfe zum Mord in 10.505 Fällen und Beihilfe zum versuchten Mord in fünf weiteren Fällen wurde die mittlerweile 99-jährige Angeklagte im Dezember 2022 verurteilt. Die Vergehen fanden im NS-Konzentrationslager Stutthof östlich von Danzig statt. Zwischen Juni 1943 und April 1945 war die Frau dort Stenotypistin in der Lagerkommandantur.
Das Gericht war überzeugt, dass sie willentlich dazu beigetragen habe, dass Gefangene durch Vergasungen, lebensfeindliche Lagerbedingungen, Transporte ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau und sogenannte Todesmärsche grausam getötet wurden.
Wichtig ist, dass ihr nicht vorgeworfen wurde, selbst gemordet zu haben – sie soll jedoch zu den Schreckenstaten im KZ beigetragen haben.
In der Pressemitteilung des Landgerichts wurde erklärt: “Die Förderung dieser Taten durch die Angeklagte erfolgte durch die Erledigung von Schreibarbeiten in der Kommandantur. Diese Tätigkeit war entscheidend für die Organisation des Lagers und die Durchführung der systematischen Tötungen.” Zu dem Zeitpunkt war die Angeklagte 18 bzw. 19 Jahre alt, was die Verhängung einer Jugendstrafe erklärte, die zur Bewährung ausgesetzt wurde.
Aktuelle juristische Überprüfung des Falls
Die Angeklagte hat Revision gegen das Urteil eingelegt. Der Bundesgerichtshof (BGH) ist dafür zuständig – in diesem Fall der V. Strafsenat, der in Leipzig sitzt. Im Rahmen der Revision überprüft der BGH nun das schriftliche Urteil des Landgerichts Itzehoe auf Rechtsfehler.
Das bedeutet, dass der Sachverhalt feststeht und nicht mehr in Zweifel gezogen wird. Es werden keine neuen Zeugen gehört und keine weiteren Beweise erhoben. Die Revisionsinstanz gilt nicht als Tatsacheninstanz.
Es wird häufig gesagt, dass es im Revisionsverfahren nur um “Formfehler” geht. Das ist jedoch nicht korrekt. Der BGH überprüft, ob das Gericht Fehler bei der Anwendung des Rechts gemacht hat und ob es aus dem festgestellten Sachverhalt falsche rechtliche Schlüsse gezogen hat. Eine solche “Sachrüge” hat die Angeklagte erhoben.
Verjährung von Straftaten
Für viele der Straftaten, die den Menschen in den Lagern angetan wurden, kann heute niemand mehr strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Zahlreiche Freiheitsberaubungen und Misshandlungen sind bereits seit Jahrzehnten verjährt. Mord hingegen verjährt nicht. Dies stellt sicher, dass Verurteilungen auch mehr als 75 Jahre später noch möglich sind.
Bedeutung der Verurteilung 75 Jahre später
“Mord verjährt nicht” verdeutlicht, dass unser Rechtssystem keinen Schlussstrich in solchen Fällen zieht. Diese grundlegende Entscheidung wurde im Hinblick auf die Verbrechen des NS-Regimes getroffen.
Im Strafrecht geht es auch darum, Rechtsfrieden wiederherzustellen. Solche Prozesse können einen wichtigen Beitrag dazu leisten, was auch die Hinterbliebenen der Ermordeten bestätigen, wenn sie an Verfahren gegen die Täter von damals teilnehmen.
Fehlende Prozesse nach dem Krieg
In den Jahren nach 1945 herrschte in der Bundesrepublik eine “Schlussstrich-Mentalität”: eine Tendenz, eher zu vergessen als aufzuarbeiten. Ein wichtiger Schritt zur Aufarbeitung waren die Auschwitz-Prozesse ab 1963, initiiert vom Hessischen Generalstaatsanwalt. Ein generelles Umdenken fand jedoch nicht statt.
Später entschied der Bundesgerichtshof, dass zur Bestrafung des Lagerpersonals von Auschwitz ein konkreter Nachweis über die Beihilfe zu Morden erforderlich sei, was sich als nahezu unlösbare Aufgabe herausstellte. Daher wurden viele Verfahren gegen die “kleinen” Täter in den folgenden Jahrzehnten eingestellt.
Mögliche Verfahren und Urteile heute
Eine Wende brachte das Urteil gegen John Demjanjuk im Jahr 2011, in dem entschieden wurde, dass allein die Anwesenheit des Lageraufsehers im Vernichtungslager ausreicht, um ihn wegen Beihilfe zum Mord zu verurteilen.
Daher ist es auch heute noch möglich, ehemalige KZ-Mitarbeiter vor Gericht zu bringen, was in mehreren Verfahren in den letzten Jahren geschehen ist.
Aktuelle Ermittlungen
Seit den neuen Urteilen gibt es fortwährend Prozesse gegen ehemalige KZ-Mitarbeiter, wie etwa 2016 gegen einen Auschwitz-Wachmann oder 2020 gegen einen ehemaligen Wachmann im KZ Stutthof.
Zudem wird gegen eine ehemalige Mitarbeiterin des Konzentrationslagers Ravensbrück ermittelt. Es laufen weitere Ermittlungen, doch aufgrund des hohen Alters der Beschuldigten, wird dies zunehmend zu einem Wettlauf gegen die Zeit.
Aufarbeitung in der DDR
Nach dem Krieg wurde die Entnazifizierung in der Sowjetischen Besatzungszone und später in der DDR rigoros betrieben. Der Antifaschismus galt als eine der Hauptsäulen der Staatsideologie, um sich als der bessere deutsche Staat zu präsentieren.
Heute ist jedoch bekannt, dass NS-Tätern in der DDR oft pauschal Absolution erteilt wurde, wenn sie sich dem Sozialismus zuwandten. Die konsequente Verfolgung dieser Täter fand kaum statt.