Interview
Viele Menschen wählen die AfD aus Überzeugung. Laut dem Soziologen Matthias Quent macht es die Politik jedoch nur stärker, wenn sie sich ausschließlich auf die Themen dieser teilweise rechtsextremen Partei konzentriert.
Frage: Was könnte der Grund dafür sein, dass die AfD in Sachsen und Thüringen so viele Wähler gewinnt? Handelt es sich um Überzeugung?
Matthias Quent: Es gibt nicht einen einzigen Grund dafür. Das ist die wichtigste Feststellung. Ein einseitiger Fokus auf die Ampelkoalition oder andere politische Akteure greift zu kurz.
Die AfD erzielte bereits bei vorherigen Landtagswahlen hohe Ergebnisse, beispielsweise über 27 Prozent in Sachsen, als es die Ampelkoalition noch nicht gab.
Bezüglich der Frage, ob dies aus Überzeugung oder aus diffusem Protest geschieht, zeigen die Daten klar, dass ein großer Teil in der Tat eine überzeugte Wahl darstellt, die in wesentlichen Teilen aus einem relevanten rechtsextremen Einstellungsmilieu stammt.
Dies betrifft zwar nicht alle Wähler, jedoch gibt es eine stabile und engagierte Basis. Diese Basis ermöglicht es der Partei, mit einer volksnahen Kümmererstrategie aktuelle Krisen und Probleme zu radikalisieren und damit neue Wählermilieus zu erschließen.
AfD schürt “ständige Angst vor Untergang”
Frage: Auf welcher Basis beruhen diese Überzeugungen?
Quent: Diese Überzeugungen resultieren aus einem Misstrauen gegenüber dem, was liberale Demokratie ausmacht. Dies gilt nicht nur für Ostdeutschland, sondern auch im Westen, wenn auch in geringerem Maße. Wir sehen ähnliche Phänomene auch international.
Es liegt eine ständige Angst vor Niedergang und Notstand zugrunde, die auch im politischen und öffentlichen Diskurs durch drastische Rhetorik, insbesondere im Kontext der Migration, verstärkt wird.
Die AfD und ihr Umfeld verstärken dieses Gefühl, was letztlich zu einer emotionalen Gemeinschaft führt. Diese Gemeinschaft glaubt, dass alles im Niedergang begriffen ist und nur die AfD das Land vor einer bevorstehenden Katastrophe retten kann.
Rationalen Argumenten entgegenzuwirken, ist äußerst schwierig. Es handelt sich um eine kulturelle pessimistische Schilderung, die für viele Menschen ansprechend ist und sie für radikale Botschaften empfänglich macht.
“Für junge Menschen durchaus attraktiv”
Frage: Warum ist diese Strömung besonders unter jungen Menschen verbreitet, die traditionell weniger rechts wählen?
Quent: Dies war nur in den letzten Jahren untypisch, als man den Einfluss der Klimabewegung sah und annahm, junge Menschen seien eher weltoffen und ökologisch liberal eingestellt.
Betrachtet man Osteuropa oder die 1990er und 2000er Jahre in Ostdeutschland, zeigt sich, dass die rechtsextreme Lebenswelt für viele junge Menschen durchaus attraktiv sein kann.
Dies liegt an der Erziehung und dem Verlust der Glaubwürdigkeit des gesellschaftlichen Versprechens einer besseren Zukunft für die jüngere Generation, während gleichzeitig soziale Medien ihnen vor Augen führen, was sie nicht erreichen können, und sie zugleich der Agitation von Influencern aus rechtsextremen Kreisen ausgesetzt sind.
“Es gibt Regionen, in denen rechts sein normal ist”
Frage: Welche Rolle spielt Social Media? Ist es vielleicht “in”, rechts zu sein?
Quent: In bestimmten Milieus ist es durchaus “in”. Man darf das nicht verallgemeinern. Die Jugend als Ganzes ist nicht rechts, doch ein erheblicher Teil, etwa ein Drittel der jungen Erwachsenen, hat Sympathien für die AfD oder ausländerfeindliche Einstellungen.
Es gibt Regionen, in denen rechtes Denken zur Normalität geworden ist, und junge Menschen, die sich nicht rechtsidentifizieren, fühlen sich gezwungen, ihre Meinung zu verbergen.
In strukturschwachen Regionen entstehen regelrechte “Angsträume”, wo eine rechts orientierte Jugendkultur vorherrscht, die auch durch soziale Medien verstärkt wird.
Besonders auffällig ist, dass sich vor allem junge Männer zu diesen rechten Ideologien hingezogen fühlen.
“Schweigende Mehrheit immer mehr zum Schweigen gebracht”
Frage: Was ist mit denjenigen, die nicht für die AfD gestimmt haben? Warum sind sie gesellschaftlich so wenig präsent?
Quent: Dies ist ein ernsthaftes Problem im gesamten politischen Diskurs. Auch wenn die ostdeutschen Landtagswahlen in der bundespolitischen Debatte oft als unwichtig erachtet werden, zeigt sich, dass über 60 Prozent der Menschen in Ostdeutschland die AfD nicht in einer Regierungsposition sehen möchten.
Gleichzeitig gibt es eine wachsende Unsicherheit, da das rechte Milieu aggressiv und präsent ist. Einschüchterungen und Drohungen gegenüber politischen Gegnern führen dazu, dass sich viele in ihrer Meinung isoliert fühlen.
Diese Situation hat die oft beschworene schweigende Mehrheit in den letzten Jahren immer mehr zum Schweigen gebracht.
“Gemeinsamkeiten zwischen Jena und Tübingen”
Frage: Entzweit sich Deutschland zunehmend? Driftet Ost- und Westdeutschland weiter auseinander?
Quent: Ja und Nein. Während sich Ostdeutsche in gewisser Hinsicht vom liberalen westlichen Modell entfernen, müssen wir auch die Unterschiede zwischen städtischen und ländlichen Gebieten betrachten. Es gibt oft größere Gemeinsamkeiten zwischen Städten wie Jena, Berlin, Heidelberg oder Tübingen als zwischen Jena und einigen kleineren Städten.
Pauschalisierungen müssen mit Vorsicht betrachtet werden. Klar ist jedoch, dass es sowohl ökonomisch als auch politisch kulturelle Unterschiede gibt, die voraussichtlich bestehen bleiben werden.
“Eigene politische Angebote machen”
Frage: Welche Prognose haben Sie für die nächsten Bundestagswahlen?
Quent: Das hängt stark davon ab, wie sich die politische Debatte weiterentwickelt. Momentan fokussiert sich alles auf die AfD, auch wenn sie nicht in der Regierungsverantwortung ist.
Wenn jedoch viele Wähler lediglich die CDU wählen, um ein Erstarken der AfD zu verhindern, zeigt dies die Entpolitisierung und die Schwäche der Diskussion innerhalb der demokratischen Parteien.
Sollte das Thema Notstand und Migration weiterhin im Vordergrund stehen, ohne eigene politische Angebote zu entwickeln, könnte die AfD weiter wachsen.
Es ist daher wichtig, dass die demokratischen Parteien neue Themen setzen und eigene Angebote entwickeln, um die AfD zu schwächen.
Außerdem zeigt der bundesweite Trend, dass die AfD mit 15 bis 16 Prozent nicht die gleiche Strahlkraft hat wie andere Rechtsaußenparteien in Europa, sodass die Situation vielleicht ruhiger eingeschätzt werden kann, als es die Lage in Ostdeutschland vermuten lässt.