Analyse
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die schnelle Abschiebung eines syrischen Flüchtlings nach Griechenland als rechtswidrig eingestuft. Dieses Urteil hat bedeutende Auswirkungen auf die gegenwärtige Asyldebatte in Deutschland.
Als Haitham T. 2018 an die österreichisch-deutsche Grenze kam, wurde er von der Bundespolizei aufgehalten. Er strebte an, nach Deutschland zu gelangen, wo sein Bruder lebte. Nach einer kurzen Befragung und dem Angebot eines Anwalts wurde er innerhalb weniger Stunden bereits nach Griechenland abgeschoben. “Ich war schockiert”, erinnert sich der heute 31-Jährige.
Dieser Rückflug erfolgte im Rahmen des sogenannten “Seehofer-Deals”, der im Jahr 2018 von dem ehemaligen Bundesinnenminister Horst Seehofer eingeführt wurde. Dieses Abkommen sah vor, dass Flüchtlinge, die von der Bundespolizei erfasst wurden, ohne Asylprüfung innerhalb von 48 Stunden nach Griechenland zurückgeschickt werden sollten.
Seehofer umging Dublin-Regeln
Die Dublin-Regeln der EU verlangen eigentlich, dass ein Asylantrag in Deutschland geprüft wird, wenn er an der Grenze eingereicht wird. Seehofer strebte jedoch an, diese Vorschriften zu umgehen. In den Jahren darauf wurden Abschiebungen nach Griechenland auf Grundlage dieses Abkommens durch Verwaltungsgerichte für rechtswidrig erklärt und zurückgenommen, die Betroffenen kehrten nach Deutschland zurück.
Für Haitham T., der 2018 abgeschoben wurde, sah die Situation anders aus. Er landete auf der griechischen Insel Leros, wo er inhaftiert wurde. Erst später erhielt er mit Unterstützung von Flüchtlingshelfern aufgrund einer psychischen Erkrankung den Flüchtlingsstatus. Mit diesem Status konnte er nach Deutschland zurückkehren und lebt heute in der Nähe von Dortmund mit seinem Bruder.
EGMR erkennt Menschenrechtsverletzung an
Haitham T. klagte gegen seine Abschiebung vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), der ihm nun recht gab. Das Urteil besagt, dass die Abschiebung nach Griechenland gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstieß, da die deutschen und griechischen Behörden die Vorschriften zum Schutz vor unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung nicht einhielten.
Das Gericht stellte fest, dass Deutschland Haitham T. nicht einfach abschieben durfte, da die Gefahr bestand, dass er in Griechenland kein faires Asylverfahren erlangen könnte. Das Abkommen von Seehofer enthielt keine Sicherheiten für ein effektives Asylverfahren in Griechenland und es bestand das Risiko, dass Haitham T. fälschlicherweise weitergeschoben worden wäre und letztlich in Syrien hätte landen können.
Darüber hinaus konnte Deutschland nicht garantieren, dass Haitham T. in Griechenland nicht in menschenunwürdige Haftbedingungen geraten würde, die zuvor vom EGMR bereits kritisiert wurden.
Urteil von Bedeutung für die Asyldebatte
Obwohl das Urteil einen speziellen Einzelfall aus dem Jahr 2018 betrifft, hat es weitreichende Konsequenzen für die gegenwärtige Asyldebatte. Die Entscheidung verdeutlicht, dass einseitige Zurückweisungen an der Grenze gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoßen, so Experten.
Diese Problematik wird aktuell von politischen Akteuren, auch aus der CDU, diskutiert. Expert:innen warnen jedoch, dass solche Maßnahmen im Widerspruch zu europäischem Recht stehen, und nach dem Urteil ist die Menschenrechtskonvention ein zusätzliches rechtlichesArgument gegen Zurückweisungen. “Eine Zurückweisung ist nur rechtmäßig, wenn eine Übergabe an die Behörden erfolgt”, erklärt ein Asylrechtsexperte.
Als solche Übergaben jedoch nicht immer möglich sind, erlaubt die Europäische Menschenrechtskonvention dies nur, wenn im Zielstaat ein angemessenes Asylverfahren garantiert ist.
Kettenabschiebungen müssen ausgeschlossen sein
Dennoch besteht eine wichtige Bedingung: Selbst wenn ein Abkommen ein geordnetes Verfahren zusichert, muss dies auch in der Praxis eingehalten werden. Bei einer Zurückweisung darf keine Möglichkeit bestehen, dass der Betroffene in eine Kettenabschiebung gerät, bei der er ins Heimatland zurückgeführt wird. Andernfalls wäre dies mit dem Urteil des EGMR nicht vereinbar.
Die aktuellen Bestrebungen der Regierungen in Polen und den Niederlanden, das Asylrecht vorübergehend auszusetzen, würden eine Rückweisung in diese Länder unmöglich machen, da kein geordnetes Asylverfahren mehr gewahrt werden kann.
Menschenrechtsorganisationen begrüßen das Urteil
Eine Nichtregierungsorganisation hat das Urteil aus Straßburg begrüßt. “Deutschland ist verpflichtet, menschenrechtliche Standards einzuhalten und den Zugang zu rechtsstaatlichen Asylverfahren auch an den Grenzen zu gewährleisten,” so ein Vertreter der Organisation.
Kläger hat Anspruch auf Entschädigung
Im Falle von Haitham T. hätten die deutschen Behörden bereits im Vorfeld prüfen müssen, ob in Griechenland ein Asylverfahren gewährleistet war. Laut EGMR war dies 2018 nicht gegeben.
Für Haitham T. stellt das Urteil eine späte Genugtuung dar. “Es gibt doch noch Gerechtigkeit”, sagte er. Aufgrund der Verletzungen seiner Rechte hat das Gericht Deutschland zur Zahlung von 8.000 Euro und Griechenland zu 6.500 Euro verurteilt.
Aktenzeichen 13337/19 (H. T. / Deutschland und Griechenland)