Interview
Ab heute werden an allen deutschen Landgrenzen Kontrollen durchgeführt. Die Effektivität dieser Maßnahme wird kontrovers diskutiert. Der Kriminologe Tobias Singelnstein sieht in den Kontrollen überwiegend einen symbolischen Wert und beschreibt die aktuelle Debatte als “überhitzt”.
ECNETNews: Die Kontrollen sollen der Bekämpfung illegaler Migration dienen. Wie beurteilen Sie die Wirksamkeit solcher stichprobenartigen Kontrollen?
Tobias Singelnstein: Diese Maßnahme ist umstritten, da nur eine relativ kleine Gruppe der Einreisenden an der Grenze abgewiesen werden könnte.
Wenn solche Kontrollen stichprobenartig erfolgen, verringert sich die Gruppe der potenziell abgewiesenen Personen noch weiter. Daher sehe ich diese Maßnahme vor allem als symbolisch an.
Zur Person
Tobias Singelnstein ist Professor für Strafrecht und Kriminologie an einer angesehenen Universität und war zuvor Inhaber des Lehrstuhls für Kriminologie an einer anderen renommierten Hochschule.
ECNETNews: Wie können stichprobenartige Kontrollen so durchgeführt werden, dass die Bundespolizei neutral und unvoreingenommen agiert?
Singelnstein: Die Bundespolizei steht vor einer großen Herausforderung. Polizeiarbeit erfordert Schwerpunktsetzungen und aufgrund begrenzter Ressourcen müssen, wenn neue Aufgaben entstehen, an anderer Stelle Kräfte abgezogen werden. Dies kann auch Maßnahmen gegen den islamistischen Terrorismus betreffen.
Signal an alle EU-Mitgliedstaaten
ECNETNews: In der öffentlichen Diskussion werden Migration und Terrorismus häufig zusammengebracht. Wie sinnvoll ist diese Vermischung?
Singelnstein: Aus kriminologischer Sicht ist diese Vermischung nicht sinnvoll. Es handelt sich um individuelle Fälle, die durch persönliche Geschichten und soziale Hintergründe untersucht werden müssen, um zu verstehen, wie Radikalisierung geschieht. Maßnahmen, die sich gegen eine große Gruppe von Menschen richten, wie etwa Migranten, sind in diesem Zusammenhang nicht zielführend.
Es bringt wenig, jetzt mit Maßnahmen gegen eine große Gruppe von Menschen vorzugehen.
ECNETNews: Da solche Grenzkontrollen auf sechs Monate beschränkt sind, sind langfristige Kontrollen denkbar?
Singelnstein: Die Frage der rechtlichen Zulässigkeit dieser Kontrollen ist umstritten. Zudem ist zu überlegen, welches Signal Deutschland an die EU aussendet, wenn es von den europäischen Regelungen abweicht und einen eigenen Kurs einschlägt. Das könnte andere Mitgliedstaaten dazu ermutigen, ebenfalls eigene Wege zu gehen.
Maßnahmen gegen Terrorismus statt gegen Migration
ECNETNews: Welche Maßnahmen wären Ihrer Meinung nach geeigneter, um irreguläre Migration zu bewältigen?
Singelnstein: Zunächst müssen wir uns mit den Ursachen der Migration befassen. Wir sollten verstehen, warum Menschen ihre Herkunftsländer verlassen. Migration ist eine europäische Herausforderung und kann nicht allein von Deutschland gelöst werden.
Die Diskussion darüber ist stark aufgeheizt. Statt sofortige Maßnahmen zu ergreifen, sollten wir erkennen, was genau passiert ist, die Lage analysieren und priorisieren, Maßnahmen gegen den Terrorismus zu ergreifen, anstatt gegen die Migration.