Analyse
Die Sondierungen sind noch nicht abgeschlossen, während Verhandlungsführer Merz eine Schlüsselrolle aus dem Wahlkampf einnimmt und zur Schuldenfrage Stellung bezieht. Welche Auswirkungen hat dies auf die Koalitionsverhandlungen zwischen Union und SPD?
So eine gleichzeitige Situation hat es nach einer Bundestagswahl noch nicht gegeben: Zwei potenzielle Koalitionspartner haben nicht einmal die erste Hürde für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen überwunden – den erfolgreichen Abschluss ihrer Sondierungen. Gleichzeitig haben sie unter Druck weitreichende finanzielle Entscheidungen getroffen.
Union und SPD planen die Schaffung von zwei umfangreichen Sondervermögen für Verteidigung und Infrastruktur durch neue Staatsschulden. Zudem soll die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse modifiziert werden, um bei Verteidigungsausgaben zukünftige Flexibilität zu gewährleisten.
Um die beiden Sondervermögen zügig auf den Weg zu bringen, beabsichtigt der Wahlsieger Friedrich Merz, seine Verhandlungen mit der SPD zu führen, während er die komplizierte Mehrheitslage beim alten Bundestag mit einer Zweidrittelmehrheit nutzen möchte. Diese besteht jedoch nur noch bis Ende März.
Die Situation scheint paradox: Eine noch nicht regierende Koalition einigt sich über Nacht, um die alte Zweidrittelmehrheit im Bundestag zu nutzen. Merz erklärte, dass die geopolitische Lage dies erfordere: “Angesichts der Bedrohungen unserer Freiheit und des Friedens muss auch für unsere Verteidigung gelten: Whatever it takes.” Allerdings sei dies nur tragbar, wenn die Wirtschaft schnell wieder auf einen stabilen Wachstumskurs zurückfände. Dazu bedarf es einer Verbesserung der Infrastruktur.
Es wird erwartet, dass Union und SPD sich beeilen, um ein Zeichen vor der Rede des US-Präsidenten zu setzen und dem amtierenden Kanzler beim EU-Gipfel eine Grundlage an die Hand zu geben. Auch die Europäische Kommission fordert dringende Maßnahmen als Antwort auf die neue politische Situation.
Verhandlungen in zwei Richtungen
Damit dieser Plan aufgeht, muss Merz neben den Gesprächen mit der SPD auch gleichzeitig Verhandlungen mit den Grünen führen. Ohne sie könnte Schwarz-Rot die benötigte Zweidrittelmehrheit für die Sondervermögen nicht erreichen – weder im Bundestag noch im Bundesrat.
Die Grünen, die gerade aus der Regierung kamen, sitzen daher erneut am Verhandlungstisch, wenn auch nur für kurze Zeit. Dies könnte ihnen die Gelegenheit geben, politische Akzente, beispielsweise im Bereich Klimaschutz, während der Verwendung des Sondervermögens zu setzen.
Merz schafft neue Herausforderungen
Merz läuft Gefahr, sich zusätzliche Herausforderungen einzuheimsen, bevor er sogar ins Kanzleramt einziehen kann: Er muss bereits vor seinem möglichen Kanzleramt mit den Grünen verhandeln, ohne mit ihnen zu regieren. Zudem ist er gezwungen, auf alte Mehrheiten zurückzugreifen, obwohl die Wahlen bereits stattgefunden haben. Dies könnte ihm Kritik von Grünen und SPD einbringen, die behaupten, die Entscheidung hätte bereits nach dem Scheitern der Ampelkoalition und der Wiederwahl von Trump getroffen werden können.
Die gestärkten Oppositionsparteien AfD und Linkspartei kritisieren Merz’ Bestrebungen zur Rückgriff auf die alte Bundestagsmehrheit als politisch problematisch. Sie argumentieren, dass die Dringlichkeit seitens Union und SPD nur eine Ausrede sei, um die Ergebnisse der jüngsten Wahlen zu umgehen und damit den Willen der Wähler zu missachten.
Politologe Uwe Jun erkennt, dass, obwohl Merz formal nichts falsch macht, die Bedenken nicht ohne Grund bestehen. Schwarz-Rot priorisiere pragmatische Zukunftsorientierung über den direkten Wählerwillen der neuesten Wahl.
Darüber hinaus enttäuscht Merz mit den neu geplanten Schuldentöpfen einige eigene Unterstützer, wie die Junge Union. Obwohl er Investitionen über Schulden während des Wahlkampfs nicht ausgeschlossen hatte, steht die Schuldenbremse weiterhin in ihrem Wahlprogramm: “Merz muss den Grund für sein abweichendes Verhalten erklären”, betont Jun.
Das für Infrastruktur vorgesehene neue Sondervermögen ist jedoch kein reines Projekt der Rot-Grünen. Auch prominente Ökonomen unterstützen diese Initiative, und der Bundesverband der Deutschen Industrie hat den Plan bereits als “wichtiges Signal” bezeichnet.
Koalitionsvertrag auf einem Bierdeckel?
Die Spitzen von Union und SPD haben bewiesen, dass sie sich bei dringenden Angelegenheiten schnell einigen können. Könnten sie diesen Eilmodus auch auf die Sondierungen und anschließenden Koalitionsverhandlungen übertragen, indem sie auf die üblichen detaillierten Verhandlungen verzichten? Der außenpolitische Druck, bald eine handlungsfähige Regierung in Deutschland zu bilden, ist angesichts globaler Herausforderungen spürbar.
Vorhaben dieser Art liegen bereits auf dem Tisch: Die zukünftigen Partner sollten sich auf einige Grundprinzipien und Leitlinien einigen und so auf einen umfangreichen Koalitionsvertrag verzichten. Dies wurde als eine “echte Zeitenwende” bezeichnet.
Politologe Jun warnt jedoch davor: Dies würde lediglich die Verhandlungen über bestehende Unterschiede verschieben und könnte zu einem Überangebot konsultativer Ausschüsse führen. Zudem würde der kleine Koalitionspartner oft benachteiligt, was seine Verhandlungsstärke schwächen könnte. “Koalitionsverträge sichern die Macht der kleineren Partner”, bemerkt Jun.
Die SPD wird das von dieser Erfahrung abhängige Schicksal im Auge behalten, insbesondere da sie den Koalitionsvertrag ihren Mitgliedern zur Abstimmung vorlegen möchte. Aufgrund der unterschiedlichen programmatischen Ansätze werden die Koalitionsverhandlungen voraussichtlich nicht reibungslos verlaufen. Trotz allem sind Union und SPD nach Ihrem jüngsten Vorstoß erneut auf das Gelingen ihrer Gespräche angewiesen, da es keine andere politisch gewollte Mehrheit gibt.