Die Rücktritte innerhalb der Grünen markieren einen entscheidenden Moment im politischen Geschehen der Ampelkoalition. Die Opposition sieht das Regierungsbündnis am Ende und fordert Neuwahlen, während die Reaktionen der Ampelpartner variieren.
Ein Jahr vor der Bundestagswahl und nach mehreren schlechten Wahlergebnissen ziehen die Grünen die Notbremse. Die gesamte Parteispitze tritt zurück. “Ein Neustart ist notwendig”, betonte Omid Nouripour. Zusammen mit Ricarda Lang hatte er die Grünen seit Ende Januar 2022 geführt. “Es müssen neue Gesichter her, um die Partei aus dieser Krise zu führen”, ergänzte Lang.
Das politische Beben bei den Grünen fällt mitten in den “Herbst der Entscheidungen” der Ampelkoalition. Das Drei-Parteien-Bündnis kämpft nicht erst seit den vergangenen Landtagswahlen um Stabilität. Angesichts der anhaltenden Konflikte zwischen SPD, Grünen und FDP sowie der geringen Zustimmungswerte sieht die Opposition eine Zersplitterung der Regierungskoalition und fordert zunehmend vorgezogene Neuwahlen.
Söder fordert Habecks Rücktritt
Nach den angekündigten Rücktritten bei den Grünen sehen sich die Kritiker bestätigt und fordern weitere Schritte. CSU-Chef Markus Söder fordert den Rücktritt von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck. Er müsse die Verantwortung für den wirtschaftlichen Niedergang Deutschlands übernehmen. Dies belege, dass die Ampelkoalition in sich zerfällt.
Ähnliche Forderungen kamen von der CDU. “Wenn Ricarda Lang von der Notwendigkeit eines Neuanfangs spricht, können die jetzigen Amtsinhaber, die als Symbole einer misslungenen Wirtschafts- und Migrationspolitik gelten, nicht bleiben”, äußerte Thorsten Frei, der parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion. Die Koalition zerfalle vor laufenden Kameras.
CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann erklärte, das Land könne ein weiteres Jahr mit der Ampelkoalition nicht überstehen. “Neuwahlen sind unausweichlich”, sagte er. Dieser Auffassung schlossen sich auch die AfD und BSW an. BSW-Chefin Sahra Wagenknecht forderte die Grünen-Minister auf, die politische Verantwortung für die schlechte Regierungsführung zu übernehmen und den Weg für Neuwahlen freizumachen. Auch AfD-Chefin Alice Weidel meinte, der Rücktritt sei der “Anfang vom Ende der Ampel” und forderte Kanzler Scholz auf, die Vertrauensfrage zu stellen.
Baerbock setzt auf Verbesserung
Bundeskanzler Olaf Scholz betonte wiederholt, dass er bis zum regulären Ende der Legislaturperiode mit der Ampelkoalition weiterregieren und auch weiterhin Kanzler bleiben wolle. Der Rücktritt der Grünen-Führung habe laut Scholz keine Auswirkungen auf die Koalition und sei eine interne Angelegenheit.
Außenministerin Annalena Baerbock sieht das jedoch anders: “Auch wir in der Regierung müssen uns fragen, wie wir besser werden können”, äußerte sie am Rande der UN-Generalversammlung. Es gehe darum, das Vertrauen der Bürger in die Politik zurückzugewinnen. Sie betonte, dass alle Verantwortungsträger der Grünen sich überlegen sollten, was sie anders machen können.
Baerbock zollte den aktuellen Grünen-Chefs Nouripour und Lang Respekt für ihre Entscheidung, auch viele andere Grünen-Politiker aus den Ländern und dem Bund. Der einzige grüne Ministerpräsident, Winfried Kretschmann, bezeichnete den Schritt ebenfalls als richtig und als Chance für einen personellen Neuanfang.
Lindner erwartet Kurswechsel
FDP-Chef Christian Lindner sprach den scheidenden Grünen-Chefs Lang und Nouripour seinen Respekt aus. Dennoch äußerte er: “Wir sind gespannt, ob unter neuer Führung ein neuer Kurs entsteht und wie sich dies auf die Regierung auswirkt.” Es sei dringend erforderlich, dass die Regierung zur Sacharbeit komme. Das Land habe keine Zeit zu verlieren.
Die Grünen-Chefs zogen mit ihrem Rücktritt die Konsequenz aus dem schlechten Abschneiden bei den letzten drei Landtagswahlen in Ostdeutschland, zuletzt am Sonntag in Brandenburg, wo die Grünen mit 4,1 Prozent an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterten – jedoch nicht so deutlich wie die FDP, die nicht einmal ein Prozent erhielt.
Mögliche Nachfolge-Kandidaten
Der Umbau der Parteiführung soll im November auf dem Bundesparteitag in Wiesbaden erfolgen. Mögliche Nachfolgekandidaten sind Franziska Brantner, Parlamentarische Staatssekretärin im Bundeswirtschaftsministerium und dem Realo-Flügel zugehörig, sowie der Bundestagsabgeordnete Felix Banaszak, der dem linken Parteiflügel zugerechnet wird. Auch frühere hessische Wirtschaftsminister Tarek Al-Wazir und der Vizechef der Bundestagsfraktion, Andreas Audretsch, wurden als mögliche Kandidaten genannt.
Habeck übernimmt Verantwortung für die Krise
Auf dem Parteitag wird voraussichtlich auch entschieden, wer die Grünen als Spitzenkandidat in die Bundestagswahl anführen wird. Robert Habeck steht bereit, nachdem Baerbock auf eine Kandidatur verzichtet hat. Er will sich auf dem Parteitag die Unterstützung der Grünen-Basis für eine mögliche Kanzlerkandidatur sichern. “Ich möchte eine offene Debatte zu einer möglichen Kandidatur und ein ehrliches Abstimmungsergebnis in geheimer Wahl”, erklärte Habeck. Er lobte Lang und Nouripour für ihre Stärke und Weitsicht, die sie für einen kraftvollen Neuanfang bereitstellten.
Habeck stellte klar, dass auch er als Vizekanzler und Wortführer der Grünen in der Bundesregierung einen Anteil an der Krise der Partei hat. “Die Wahlniederlagen sind unbestreitbar durch den Bundestrend beeinflusst”, gestand Habeck. “Wir tragen alle Verantwortung, auch ich.”