Interview
Die soziale und Altersstruktur, das Empfinden der Benachteiligung gegenüber Westdeutschen und die begrenzte politische Mitgestaltung sind Faktoren, die das starke Abschneiden der AfD erklären, betont der Görlitzer Sozialwissenschaftler Raj Kollmorgen.
ECNETNews: Herr Kollmorgen, die AfD hat in mehreren Landtagswahlen kürzlich gewonnen und ist in Thüringen erstmalig stärkste Kraft. Sehen Sie die Ursachen eher in einer Art Ampel-Frustration oder liegt es an negativen Erfahrungen seit der Wende?
Kollmorgen: Ich würde beides zusammen betrachten. Viele Bürgerinnen und Bürger in diesen Bundesländern haben während der Transformation und der Wiedervereinigung sowohl positive als auch negative Erfahrungen gemacht, was zu einer veränderten Sicht auf die Ampel-Politik führt. Sie kritisieren diese daher oft radikaler.
Zwei Bundesländer mit Gemeinsamkeiten
ECNETNews: In Sachsen, wo Sie leben, erreicht die CDU Platz eins, während in Thüringen die AfD dominiert. Geht von der AfD eine besondere Anziehung aus?
Kollmorgen: Ich würde diese beiden Bundesländer vergleichend nebeneinander betrachten. Sie haben viele Gemeinsamkeiten, trotz der größeren Bevölkerung Sachsen. Thüringen hat eine geografische Nähe, die intensivere Austausch und Pendelbewegungen in den 1990er- und frühen 2000er-Jahren begünstigte.
Zusätzlich spielt die ländliche Struktur Thüringens und ein andersartiger Konservatismus in einigen Teilen des Bundeslandes eine Rolle, was die Offenheit gegenüber der AfD beeinflusst.
Altersstruktur spielt wichtige Rolle
ECNETNews: Welche Bedeutung hat die Altersstruktur der Bevölkerung?
Kollmorgen: Die Altersstruktur ist durchaus bedeutend. Thüringen hat eine etwas ältere Bevölkerung als Sachsen. Die soziale und demografische Struktur beeinflussen das Wahlverhalten erheblich. Ältere Menschen nehmen gegenwärtige Probleme anders wahr, besonders in Bezug auf Sicherheit, medizinische Versorgung und Infrastrukturen.
Jüngere Menschen erleben diese Aspekte nicht so stark. Ihre politischen Entscheidungen sind geprägt von persönlichen Erfahrungen aus den 1990er- und frühen 2000er-Jahren, die die Wahrnehmung der aktuellen Politik beeinflussen.
Starke Protesthaltung
ECNETNews: Der Begriff “Transformationsschock” beschreibt gut die Situation. Zwischen 1990 und 1995 haben viele Ostdeutsche ihre Arbeitsplätze verloren. Warum jedoch beschäftigen sich die Menschen dennoch intensiv mit übergeordneten politischen Themen?
Kollmorgen: Dies ist eine grundlegende Problematik. Ostdeutsche neigen dazu, eine stärkere Protesthaltung zu entwickeln und bringen diese in ihre politischen Aktivitäten ein. Sie sind oft weniger an Parteien und Verbänden gebunden, wodurch sie die gesamte politische Landschaft kritisch betrachten.
Zudem stellen sie schneller die Frage, ob das Gesamtsystem funktioniert und ob es an einzelnen Akteuren oder dem System selbst liegt. Eine signifikante Anzahl von Ostdeutschen sieht die Forderung nach einer grundlegenden Elitenkritik und macht das Gesamtsystem dafür verantwortlich.
Gefühl der Abwertung und Enteignung
ECNETNews: Warum empfinden die Menschen das so?
Kollmorgen: Dies lässt sich zum Teil auf die Geschichte der ostdeutschen Länder zurückführen. Viele ältere Menschen sind durch die DDR geprägt und haben negative Erfahrungen mit der Transformation und den politischen Maßnahmen gemacht. Sie fühlen sich abgewertet und enteignet, als hätten westdeutsche Eliten und Unternehmen ihr Wohl absichtlich übersehen.
Diese Kritiken sind tief verwurzelt in ihrer Vergangenheit und der Wahrnehmung, dass die Möglichkeiten politischer Systeme ihnen nicht gerecht werden.
Weniger Duisburg, mehr Konstanz
ECNETNews: Trotz der weit verbreiteten Systemkritik ist die wirtschaftliche Lage in Thüringen nicht so schlecht. Wie passt das zusammen?
Kollmorgen: In vielerlei Hinsicht ist die wirtschaftliche und soziale Lage besser als oft wahrgenommen. Diese grundlegende Protest- und Kritik-Haltung führt jedoch oft nicht zu aktiver Mitgestaltung der Politik.
Eine Umfrage zeigt, dass etwa drei Viertel der ostdeutschen Wahlbevölkerung glauben, sie könnten die Politik durch eigene Aktivitäten nicht ernsthaft beeinflussen, was für die demokratische Beteiligung bedenklich ist.
Zudem sehen Ostdeutsche bei ihrem Vergleich oft Städte wie Konstanz oder Hamburg-Blankenese, was zu einem Gefühl der Benachteiligung im Vergleich zu Westdeutschen führt. Ein erheblicher Teil der Wahlbevölkerung fühlt sich weiterhin als Bürger zweiter Klasse, was sich negativ auf ihre Einschätzung der eigenen Situation auswirkt.