Im Jahr 2026 sollen neue US-Mittelstreckenwaffen in Deutschland stationiert werden, ein Beschluss von Kanzler Scholz, der weiterhin auf Widerstand stößt. Experten und Politiker fordern eine umfassende Diskussion.
Am Donnerstagabend, um 21:17 Uhr, debattiert der Bundestag zum ersten Mal über die weitreichende Entscheidung zur Stationierung neuer US-Mittelstreckenraketen und Marschflugkörper in Deutschland.
Dietmar Bartsch, Abgeordneter der Linken, bezeichnet die Art und Weise der Entscheidungsfindung als “Ungeheuerlichkeit”. Seine Bundestagsgruppe strebt an, die Vereinbarung zwischen Deutschland und den USA zu annullieren.
Obwohl dies voraussichtlich nicht geschehen wird, schwelte seit der Ankündigung von Kanzler Olaf Scholz auf einem NATO-Gipfel in Washington Mitte Juli eine Debatte über Sicherheit, Ängste und Bedenken. Anders als behauptet, kam die Entscheidung für viele Beobachter überraschend, da sie nicht im Rahmen der NATO vereinbart wurde.
Geteilte Meinung in der Bevölkerung
Laut dem aktuellen ARD-DeutschlandTrend sprechen sich 45 Prozent der Befragten gegen die Stationierung aus, während nur 40 Prozent dafür sind. Insbesondere in Ostdeutschland, wo aufgrund des Zwei-plus-Vier-Vertrags keine Stationierung möglich wäre, liegt die Ablehnung bei 57 Prozent. Umfragen anderer Institute zeigen seit Juli ein ähnliches Bild.
Kanzler Scholz verweist auf die Bedrohung durch die russische Aufrüstung nach dem Angriff auf die Ukraine und betont, Deutschland müsse seine “Abschreckung sicherstellen”.
Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius spricht von einer “ernstzunehmenden Fähigkeitslücke”, die es zu schließen gilt. Die geplanten Waffensysteme sollen 2026 stationiert werden und könnten potenziell auch mit Nuklearwaffen bestückt werden, obwohl diese nur konventionell eingesetzt werden sollen. Eine offizielle Erklärung des Kanzlers steht bisher aus.
Die Kritik an den Stationierungsplänen zieht sich durch die SPD. Fraktionschef Rolf Mützenich warnt vor einer ungewollten militärischen Eskalation, während Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke eine breitere Diskussion fordert. Auf einer Anti-Kriegs-Demonstration am 3. Oktober in Berlin sprach sich der SPD-Linke Ralf Stegner klar gegen die Raketenpläne aus.
Protestforscher: “Katastrophal kommuniziert”
Alexander Leistner, ein Protestforscher von der Universität Leipzig, beobachtet die Situation kritisch und bezeichnet die Kommunikation über die Stationierung als “katastrophal”. Er merkt an, dass es einen Unterschied zur Kontroversen der 1980er-Jahre gibt, da es sich diesmal nicht um Atomwaffen handelt. Zwei unterschiedliche Sichtweisen prallen aufeinander: Während einige Russland als Bedrohung wahrnehmen, sehen andere den Ukraine-Konflikt als einen Stellvertreterkrieg, der durch die Stationierung weiter eskalieren könnte.
Die bisherigen Proteste können keineswegs mit den großen Mobilisierungen gegen den NATO-Doppelbeschluss oder den Irak-Krieg 2003 verglichen werden, obwohl das Raketen-Thema zur Bundestagswahl erheblichen Einfluss haben wird.
Während die Partei von Sahra Wagenknecht eine Volksabstimmung auf Bundesebene fordert, macht sie in mehreren Bundesländern die Ablehnung der Pläne zur Bedingung für ein mögliches Kooperationsbündnis. Sie warnt vor der “massiven Gefahr für die Bevölkerung”, die von den Raketen ausgehe.
Argumente für und gegen die Waffenstationierung
Befürworter der Stationierung kritisieren, dass in der Debatte Halbwahrheiten verbreitet werden. SPD-Abgeordneter Falko Droßmann betont, dass Demokratie und Rechtsstaat “verteidigt werden müssen”. Ähnlich äußert sich die FDP, der Koalitionspartner.
Die Stationierung wird vor allem als Reaktion auf russische Kurzstreckenraketen angesehen, die seit 2018 in Kaliningrad stationiert sind und einen Großteil von Polen und Teilen des Baltikums sowie Deutschlands erreichen können.
Oberst a. D. Wolfgang Richter, ein Sicherheitsexperte, hat die geplante Stationierung infrage gestellt und identifiziert drei wesentliche Punkte. Er argumentiert, dass Deutschland durch die einseitige Vereinbarung mit den USA isoliert wird, da andere europäische Partner die Risiken nicht teilen. Er bezweifelt zudem, dass eine Fähigkeitslücke existiert, da die NATO bereits jetzt in der Lage ist, Ziele in Russland anzugreifen. Die neuen Raketen würden die strategischen Warnzeiten verkürzen und dadurch das Gleichgewicht zwischen den USA und Russland destabilisieren.
Richter verteidigt in der aktuellen Debatte das Konzept der Abschreckung, betont jedoch, dass den Stationierungsplänen ein Angebot fehlen müsste, um aus der gegenwärtigen Spirale herauszukommen. Aktuell bleibt nur ein Atomwaffen-Kontrollvertrag zwischen den USA und Russland, der jedoch ausgesetzt ist und 2026 ausläuft.
Rufe nach einer breiteren Debatte
Die Entscheidung der Bundesregierung zur Raketenstationierung stößt auf eine Bevölkerung, die trotz ihrer Befürwortung des NATO-Bündnisses zunehmend besorgt über einen möglichen Krieg ist.
Leistner fordert eine breite gesellschaftliche Debatte, um zu klären, “was Frieden bedeutet und welche Strategien notwendig sind.” Er verweist auf die Friedensbewegung in den 1980er-Jahren, die diese Diskussion initiiert hat, und betont, dass es wichtig sei, nicht nur auf die lautstarkesten Stimmen zu hören.
Am Donnerstagabend äußern auch Unterstützer der Raketenstationierung im Bundestag Kritik an Olaf Scholz. CSU-Abgeordneter Florian Hahn erläutert, dass Moskau eine Politik der “Abwehr und Abschreckung” versteht, und kritisiert die “Nichtkommunikation” des Kanzlers, die zu Verunsicherung in der Bevölkerung führt.
Die Grüne Merle Spellerberg hebt hervor, dass neben einer breiten öffentlichen Diskussion auch eine Erklärung des Kanzlers notwendig sei. Bislang sei dies jedoch nicht erfolgt, während das Plenum des Bundestags zum nächsten Tagesordnungspunkt übergeht.