Interview
Migrationsforscher betont: “Zurückweisungen an den Grenzen könnten zur ziellosen Wanderung von Menschen durch Europa führen.”
ECNETNews: Heute tagt erneut die Bundesregierung zum Thema Asyl und hat ein umfassendes Sicherheitspaket verabschiedet. Wie beurteilen Sie die von der Regierung ergriffenen Maßnahmen?
Hans Vorländer: Diese Maßnahmen wurden unter erheblichem Druck der CDU und von CDU-Chef Friedrich Merz zügig beschlossen. Die Bundesregierung musste ihre Handlungsfähigkeit demonstrieren, was die politische Einordnung dieser Maßnahmen beeinflusst.
ECNETNews: Die Unionsparteien setzen auch Zurückweisungen an der deutschen Grenze als Bedingung für ihre Unterstützung. Sind solche Zurückweisungen überhaupt praktikabel?
Vorländer: Entscheidend werden die Fragen sein: Wer wird zurückgewiesen? Handelt es sich um Menschen ohne Visum oder um solche mit bestehenden Einreiseverboten? Oder geht es allgemein darum, dass niemand in Deutschland mehr einen Asylantrag stellen kann?
Letzteres wäre ein klarer Verstoß gegen EU- und deutsches Recht und dürfte an deutschen Grenzen nicht umsetzbar sein. Problematisch sind die Dublin-III-Fälle, bei denen Personen bereits in einem anderen EU-Land Asyl beantragt haben.
Laut der Dublin-III-Verordnung müssten solche Personen in Deutschland zunächst aufgenommen und anschließend an das Erstland zurückgegeben werden, was zwingendes EU-Recht ist und nicht einfach umgangen werden darf.
“Erhebliche politische Turbulenzen” möglich
ECNETNews: In der politischen Debatte gibt es Stimmen, die meinen, dass das Abweisen an den Grenzen aufgrund von Dublin III möglich sei. Ist das tatsächlich der Fall?
Vorländer: Das ist aus menschenrechtlichen und asylrechtlichen Gründen nicht umsetzbar. Nur weil andere EU-Staaten die Dublin-III-Verordnung nicht einhalten, rechtfertigt das nicht, dass Deutschland dies ebenfalls tut.
Wer EU-Recht infrage stellt, gefährdet die Europäische Union und das geplante europäische Asylsystem, welches bis 2026 reformiert werden soll.
ECNETNews: Österreich hat angekündigt, keine Asylsuchenden von der deutschen Grenze zurückzunehmen. Wie gravierend ist diese Maßnahme?
Vorländer: Dies ist ein politisches Problem, das entstehen kann, wenn Zurückweisungen tatsächlich umgesetzt werden. Werden keine Asylsuchenden mehr aufgenommen, entsteht ein Rückstau in den anderen ost- und mitteleuropäischen Ländern, was zu erheblichen politischen Turbulenzen führen könnte.
Menschen würden ohne Ziel durch Europa ziehen und müssten überall Asylanträge stellen. Es wäre schwer zu erreichen, eine einheitliche europäische Asylpraxis zu etablieren, die bereits verabredet und nun in die Umsetzung geht.
“Nur mit den europäischen Partnern zusammen”
ECNETNews: Die Unionsparteien warnen vor einem Dominoeffekt, wenn Länder ihre Grenzen besser schützen. Ist dies realistisch?
Vorländer: Die Menschen sind bereits hier und könnten nur weiter hin- und hergeschoben werden. Dies würde zu Schleusungen oder illegalen Grenzübertritten führen, da die Menschen ohne Perspektive und ohne die Möglichkeit wären, ihren Asylantrag prüfen zu lassen.
ECNETNews: Deutschland nimmt derzeit Menschen auf, um überlastete Aufnahmeländer an den EU-Außengrenzen zu entlasten. Würden die neuen Maßnahmen bedeuten, dass Länder wie Italien und Griechenland stärker belastet werden?
Vorländer: Die Dublin-III-Verordnung sieht vor, dass die Länder, in denen Menschen zum ersten Mal einen Asylantrag stellen, die Verfahren durchführen. Doch dies wurde in den vergangenen Jahren oft nicht eingehalten, was zur Sekundärmigration in Europa beiträgt.
Die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) hat das Ziel, an den Außengrenzen der EU Verfahren durchzuführen. Eine effektive Umsetzung dieser Reform kann nur in enger Zusammenarbeit mit den europäischen Partnern erreicht werden.
“Die Zahl steigt im Augenblick nicht”
ECNETNews: Es wird überlegt, ob Deutschland eine nationale Notlage erklären könnte, um EU-Recht zu umgehen. Sehen Sie dafür einen aktuellen Anlass?
Vorländer: Nein, die momentane Lage ist nicht neu. Zwar gab es islamistisch geprägte Attentate, jedoch sind keine Umstände gegeben, die eine nationale Notlage rechtfertigen würden. Diese müsste schlüssig gegenüber der EU-Kommission nachgewiesen werden.
Aktuell gibt es keinen Anstieg von Asylsuchenden, vielmehr ist die Tendenz rückläufig. Argumente über ein erhöhtes Sicherheitsrisiko müssen belegbar sein.
Die innere Sicherheit wird von vielen nicht als so gravierend gefährdet wahrgenommen, dass sie eine nationale Notlage begründen könnte.
“Der Kontext der Wahl ist ganz offensichtlich”
ECNETNews: Ist das Thema Asyl aktuell von so großer Bedeutung oder wird es von politischen Parteien genutzt, um Druck auszuüben?
Vorländer: Dies ist in erster Linie ein Thema für die Union und Merz. Der Kontext der Wahl ist offensichtlich; die Kommunen sind belastet, was von den zuständigen Verbänden bestätigt wird.
Zudem gibt es komplexe bürokratische Verfahren, die die Integration in den Arbeitsmarkt erschweren, auch wenn die Bilanz insgesamt nicht schlecht ausfällt.
Die Probleme sollten sachlich angegangen werden, um Lösungen zu finden, ohne die Bevölkerung mit übertriebenen Ängsten zu konfrontieren.
“Rückwirkungen auf andere Politikbereiche”
ECNETNews: Was halten Sie von den geplanten, erweiterten Grenzkontrollen?
Vorländer: Dauerhafte Grenzkontrollen stellen den Schengenraum infrage und haben Auswirkungen auf die Polizei und die Freizügigkeit des Grenzverkehrs, was logistische Probleme mit sich bringt. Unternehmen werden unzufrieden sein, wenn Lkw an den Grenzen warten müssen.
Dies könnte auch die Freizügigkeit innerhalb des Binnenmarktes erheblich beeinträchtigen und hat Rückwirkungen auf andere politische Bereiche, die ebenfalls bedacht werden müssen.
Ein weiterer Aspekt ist die Gefahr einer weiteren Renationalisierung in Europa, was für die Asylproblematik sowie den Wirtschaftsraum negativ wäre, besonders im Hinblick auf geopolitische Herausforderungen.
ECNETNews: Als Vorsitzender des Sachverständigenrats für Integration und Migration, was würden Sie der Bundesregierung empfehlen?
Vorländer: Ich empfehle der Bundesregierung, die bereits beschlossenen Maßnahmen zügig umzusetzen, den Integrationsprozess in den Arbeits- und Wohnungsmarkt sowie im Bildungsbereich zu intensivieren und die Zusammenarbeit mit europäischen Partnern für eine gemeinsame Lösung zu stärken, gemäß den Vorgaben der GEAS-Reform.