Der Streit über die Aufarbeitung der Corona-Politik bleibt bestehen. Im Mittelpunkt stehen zentrale Fragen: Welchen Einfluss hatte die Politik? Und welche Informationen sind in den veröffentlichten RKI-Protokollen zu finden?
Obwohl die Pandemie beendet ist, bleibt die Diskussion um ihre Folgen lebhaft. Die Regelungen der vergangenen Monate scheinen heute teils absurd: Spielplätze wurden abgesperrt, das Sitzen auf Parkbänken war zeitweise untersagt, und sogar beim Genuss von Eis musste ein Abstand von 50 Metern zur Eisdiele eingehalten werden. Was davon war eigentlich notwendig? Welche Lehren ziehen wir für künftige Krisen?
Die Regierungsparteien haben bislang keine umfassende Aufklärung betrieben, was zu vielen offenen Fragen führt. Ein zentraler Punkt ist die Unabhängigkeit des Robert Koch-Instituts (RKI) während der Pandemie.
Wie groß war der Einfluss?
Das RKI arbeitet unter dem Gesundheitsministerium und ist mit der Erkennung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten betraut. Dabei hat das Gesundheitsministerium die “Dienst-, Fach- und Rechtsaufsicht”. Trotz der Weisungsgebundenheit sagt das RKI, es forsche unabhängig. Diese Ambivalenz wirft Fragen auf: Wie groß war tatsächlich der Einfluss der Bundesgesundheitsminister auf das RKI?
Die Veröffentlichung der Sitzungsprotokolle des Krisenstabs des RKI hat neue Diskussionen ausgelöst. Ob die Protokolle authentisch sind, bleibt unklar, da sie einige Ungereimtheiten und Fehler aufweisen. Das RKI hat erklärt, dass die Echtheit dieser Dokumente nicht überprüft wurde.
Beim Studium dieser umfangreichen Protokolle wird offensichtlich, wie das RKI darum kämpfte, die Lage zu überblicken. Angesichts täglich neuer Erkenntnisse mussten zahlreiche Informationen und Meinungen von Fachleuten zusammengetragen werden, um politische Empfehlungen zu formulieren. Allerdings waren auch die Fachabteilungen des RKI nicht immer einer Meinung.
“Eine derartige Einflussnahme ist ungewöhnlich”
Am 10. September 2021 fand eine Videokonferenz des Krisenstabs unter dem damaligen RKI-Präsidenten Lothar Wieler statt. Dabei wurde ein Papier zur Kontaktnachverfolgung diskutiert, das auf “ministerielle Weisung” ergänzt worden war, bevor es veröffentlicht wurde. Dies deutet darauf hin, dass die Fachleute des RKI eine vorsichtigere Herangehensweise bevorzugten.
Die Einflussnahme des Ministeriums sorgte für Verwunderung: “Eine derartige Einflussnahme seitens des BMG in RKI-Dokumente ist ungewöhnlich”, wurde festgestellt. Der Leitungsstab klärte die rechtlichen Aspekte und kam zu dem Schluss, dass das Gesundheitsministerium aufgrund seiner Fachaufsicht über das RKI eingreifen könne.
Zweifel an Inzidenzwerten
RKI und Gesundheitsministerium führten immer wieder Debatten darüber, wie wichtig Inzidenzen, also die Neuerkrankungen pro 100.000 Einwohner, sind. Dieser Wert wurde von der Politik lange genutzt, um Maßnahmen zu bestimmen.
Im Lauf des Jahres 2021 äußert das RKI zunehmend Bedenken, ob die Inzidenzwerte tatsächlich geeignet sind, die Corona-Situation zu erfassen. Diese Werte wurden als “willkürliche politische Werte” bezeichnet, da sie das Infektionsgeschehen oft unterschätzten. So sprach sich das RKI im Mai 2021 gegen Lockerungsmaßnahmen in Niedersachsen aus, obwohl die Inzidenz unter 35 lag.
Im August 2021 beschlossen die Ministerpräsidenten, dass die Inzidenz nicht mehr das alleinige Maß für die Gefährdung des Gesundheitssystems sein sollte.
Bei einer Sitzung des Krisenstabs am 11. August 2021 wurde deutlich, dass das Gesundheitsministerium Unterstützung bei der Entwicklung eines geeigneten “Indikatorensets” suchte. Die Diskussion drehte sich um die Einbeziehung von Krankenhauseinweisungen oder Impfquoten. Letztlich stellte das RKI klar, dass das komplexe Geschehen nicht in eine einfache Formel gefasst werden kann.
Am Ende musste die Politik entscheiden
Während der Pandemie wurden die Inzidenzwerte zu einem Beispiel für den Konflikt zwischen politischen Anforderungen und wissenschaftlicher Realität. Die Suche nach einem leicht nachvollziehbaren Wert blieb oft unerfüllt.
Das RKI nahm in diesen Fällen eine unabhängige Haltung ein, konnte jedoch keine alternative “Messgröße” bereitstellen. Letztlich musste die Politik Entscheidungen treffen, wobei das RKI feststellte: Das Institut “sollte in sich stimmige Empfehlungen machen, die Umsetzung ist nicht Problem des RKI”. Dies führte zu Verwirrung in der Kommunikation mit der Öffentlichkeit.
Dissens bei Gefährdung im Februar 2022
Im Frühjahr 2022 gab es Uneinigkeit darüber, wann die Gefährdungslage durch Corona herabgestuft werden sollte. In einer Sitzung am 9. Februar wurde angemerkt, dass eine Herabstufung vor der Ministerpräsidentenkonferenz am 16. Februar “politisch nicht gewünscht” wäre. Die inhaltliche Diskussion wurde vertagt.
Trotz dieser Bedenken entschieden sich die Ministerpräsidenten zur Lockerung. Das RKI plante, das Risiko Ende Februar von “sehr hoch” auf “hoch” zu senken, was vom Bundesgesundheitsministerium abgelehnt wurde.
Die politische Einflussnahme bleibt ein sensibles Thema. Bereits im März 2020, zu Beginn der Pandemie, sorgte eine Passage in den Protokollen für Aufregung. Im Frühjahr 2024 waren diese Protokolle stark geschwärzt. Die Spekulationen über politisches Handeln in Bezug auf die wissenschaftliche Beurteilung des RKI nahmen zu.
Schnell wurde der Vorwurf entkräftet: Bei dem geschwärzten Mitarbeiter handelte es sich um den damaligen Vizepräsidenten des RKI. Der Bundesgesundheitsminister wies zudem die Behauptungen zurück, das RKI habe unter politischem Einfluss gestanden.
Fragen, die beantwortet werden sollten
Die Protokolle zeigen ein komplexes Spannungsfeld: Mal forderte das RKI strengere Maßnahmen, mal erkannte es erste Anzeichen der Entspannung, während die Politik zögerte. Das Gesundheitsministerium hatte Einfluss auf die Bewertung des RKI, insbesondere bei der Einschätzung der Gefährdungslage. Dies verdeutlicht den Konflikt zwischen wissenschaftlicher Integrität und politischer Entscheidung.
Das Bundesgesundheitsministerium betont, dass die politische Verantwortung bei ihm liegt, auch wenn das RKI Empfehlungen abgab. Es bleibt jedoch unklar, wie die konkreten Entscheidungen getroffen wurden und welche Faktoren ausschlaggebend waren. Viele Fragen müssen noch geklärt werden, um sich für zukünftige Herausforderungen besser zu wappnen.