Interview
Gerichtspsychiater Reinhard Haller zieht Parallelen zwischen dem Attentäter von Magdeburg und dem norwegischen Massenmörder Breivik. Er äußert, dass möglicherweise eine Persönlichkeitsstörung oder eine Wahnerkrankung vorliegt.
Frage: Was fiel Ihnen auf, als Sie von den Informationen über den Täter von Magdeburg hörten?
Haller: Es ist schwierig, Ferndiagnosen zu stellen, ohne alle Hintergründe zu kennen. Doch der Vergleich mit ähnlichen Fällen lässt gewisse Rückschlüsse zu.
Ich stellte mir zunächst die Frage nach den Motiven des Täters. Offensichtlich wollte er der Gesellschaft maximalen Schmerz zufügen, ein häufiges Motiv bei ähnlichen Attentätern.
Es ist besonders erschreckend, dass er Kinder in einem friedlichen Umfeld angreift – ein Massaker, das in emotional aufgeladenen Zeiten verübt wird. Unabhängig von der persönlichen Störung ist dieses Motiv evident.
Zwei Störungen wären hier denkbar: Entweder eine paranoide Persönlichkeitsstörung mit fanatischen Zügen oder eine Wahnkrankheit, bei der das Verhalten von einer überwertigen Idee bestimmt wird. Diese Unterscheidung könnte kompliziert sein.
Ich kann mir vorstellen, dass es unter den Gutachtern unterschiedliche Meinungen passieren ähnlich wie im Fall von Anders Behring Breivik, der im Jahr 2011 in Norwegen 77 Menschen, darunter primär Kinder, tötete.
Zur Person
Reinhard Haller ist ein anerkannter Gerichtspsychiater und Kriminalpsychologe. 1977 promovierte er an der Universität Innsbruck. Seit 1983 ist er Facharzt für Psychiatrie und Neurologie sowie Psychotherapeut.
Psychiater als Terrorist – “Solch etwas habe ich noch nie erlebt”
Frage: Es wirkt widersprüchlich, als jemand mit Migrationshintergrund und Helfer für Flüchtlinge gleichzeitig extremistische Ansichten zu vertreten. Wie passt das zusammen?
Haller: Der Fall wirft viele Fragen auf, insbesondere, weil der Täter Psychiater war. Verbrechen von Psychiatern sind selten, aber einen Psychiater als Terroristen habe ich noch nie erlebt.
Diese Widersprüchlichkeit deutet auf eine möglicherweise ernsthafte psychische Erkrankung hin. Oft sind in solchen Fällen die Handlungen nicht logisch nachvollziehbar.
Dagegen spricht, dass der Täter in der Vergangenheit bereits aggressives und möglicherweise sadistisches Verhalten zeigte, was auf eine Persönlichkeitsstörung hinweist.
Gefährliche Wahnerkrankung
Frage: Sie haben eine wahnkranke Störung als potenziellen Grund genannt. Doch wird in Frage gestellt, ob der Täter tatsächlich Arzt war. Wie kann es sein, dass Menschen, unabhängig von ihrem Beruf, zu Mördern werden?
Haller: Verschiedene Faktoren spielen hier eine Rolle. Psychisch kranke Personen sind insgesamt nicht gefährlicher als andere Menschen, aber es gibt eine Untergruppe mit hohem Fremdtötungsrisiko: Menschen mit Wahnkrankheiten.
Diese Individuen leben in einer eigenen, wahnhaften Realität, was ihre Handlungen stark beeinflusst und oft nicht kontrollierbar macht.
Menschen mit wahnhaften Störungen erscheinen normalerweise psychisch stabil und können daher brutale Taten planen und ausführen. Das macht sie besonders gefährlich, wie auch im Fall von Breivik oder anderen ähnlichen Fällen, wie der des Hauptlehrers Wagner, der 1914 in Deutschland morden konnte.
“Eine Form des Abwehrmechanismus”
Frage: Was kann neben einer Erkrankung zur Radikalisierung führen, insbesondere wenn Drohungen im Raum stehen?
Haller: Bei fanatischen Persönlichkeitsstörungen wird oft eine Idee zur zentralen Lebenssache. Es lässt sich schwer erklären, warum das geschieht. Psychoanalytiker könnten es als Abwehrmechanismus interpretieren – er könnte den Hass auf die Gesellschaft projizieren, um seine eigenen inneren Konflikte zu bewältigen.
Der besondere Aspekt dieses Falls ist die Tatsache, dass er als Psychiater tätig war. Es ist ratsam zu hinterfragen, warum seine Störung in einer Einrichtung mit zahlreichen Kontrollen und Supervisionen nicht erkannt wurde.
“Gefühl eines Retterwahns”
Frage: Gibt es bereits Initiativen zur Prävention solcher Taten, darunter auch Verhaltensanalysen?
Haller: Generell scheinen solche Ansätze zu helfen. In diesem Fall handelt es sich jedoch um einen Einzeltäter. Terroranschläge haben oft einen ideologischen Hintergrund und geschehen in Gruppen, während Amoktaten häufig mit psychisch kranken Tätern assoziiert werden.
Ein isoliert agierender Täter hat oft das Gefühl, eine aufrüttelnde Mission zu erfüllen. Ironischerweise trat er in den Ort ein, wo er zuvor arbeite, diesmal jedoch nicht als Therapeut, sondern als Insasse.
“Eine immer wieder schmerzhafte Narbe”
Frage: Wie sollten die Betroffenen und Angehörigen der Opfer mit der emotionalen Verarbeitung und Ängsten nach der Tat umgehen?
Haller: Die Situation ist äußerst problematisch, es gibt wohl kein einfaches Heilmittel. Mitleid und Mitgefühl der Gemeinschaft können helfen, den Schmerz zu lindern, dennoch wird immer eine Narbe zurückbleiben, die Erinnerungen an die Tragödie weckt.