Analyse
Am Vormittag verkündet Karlsruhe sein mit Spannung erwartetes Urteil zur Wahlrechtsreform der Ampel. Etwa zwölf Stunden vorher kursierte die komplette Entscheidung kurzzeitig im Internet: Die Fünf-Prozent-Klausel ohne Ausnahmen ist verfassungswidrig.
Im März 2023 hat der Bundestag mit den Stimmen der Ampelkoalition ein neues Wahlrecht beschlossen. Ziel der Reform war es, die ständige Vergrößerung des Bundestags durch sogenannte Überhang- und Ausgleichsmandate zu stoppen. Künftig soll der Bundestag eine feste Größe von 630 Abgeordneten haben. Im aktuellen Bundestag sitzen derzeit 734 Abgeordnete.
Systemwechsel der Sitzverteilung mit dem Grundgesetz vereinbar
Die Basis der Reform wird vom Bundesverfassungsgericht nicht beanstandet. Die Ampel hatte beschlossen, dass die Wähler nach wie vor mit der Erststimme einen Bewerber in ihrem Wahlkreis wählen. Allerdings kommen die Bewerber mit den meisten Stimmen nicht mehr automatisch in den Bundestag.
Diese Regelung sollte verhindern, dass Parteien mehr Sitze im Bundestag erhalten, als ihnen aufgrund des Zweitstimmenergebnisses zustehen. Überhangmandate führten in der Vergangenheit zu Ausgleichsmandaten, was eine stetige Vergrößerung des Bundestags zur Folge hatte.
Nach der Reform erhält nur noch die Anzahl der Direktkandidaten einen Sitz im Bundestag, die der Partei gemäß dem Ergebnis der Zweitstimmen zusteht. Direktkandidaten, die in ihrem Wahlkreis die meisten Erststimmen erhalten, könnten dennoch ohne Sitz im Parlament bleiben.
Die Richter des Bundesverfassungsgerichts sehen hierin keinen Verfassungsverstoß. Sie betonen, dass der Gesetzgeber in seinem Ermessen handelt. Wahlkreisabgeordnete sind nicht “Delegierte ihres Wahlkreises”, sondern Vertreter des gesamten Volkes. Das neue Verfahren führt zur Sitzeverteilung im Bundestag nach dem Wahlergebnis und entspricht dem bisherigen Modell der Ausgleichsmandate.
Fünf-Prozent-Klausel ohne Ausnahmen verfassungswidrig
Das Bundesverfassungsgericht hat einen zentralen Punkt der Wahlrechtsreform gekippt: “Die Fünf-Prozent-Klausel ist in ihrer geltenden Form mit dem Grundgesetz nicht vereinbar.” Diese Klausel erlaubt nur den Parteien den Eintritt in den Bundestag, die bundesweit mehr als fünf Prozent der Zweitstimmen erhalten. Die Ampel hatte jedoch eine bedeutende Ausnahme abgeschafft: die Grundmandatsklausel, die es Parteien ermöglichte, mit weniger als fünf Prozent der Stimmen ins Parlament einzuziehen, sofern sie mindestens drei Direktmandate gewonnen hatten.
Die Richter haben festgestellt, dass eine Fünf-Prozent-Klausel grundsätzlich geeignet ist, die Funktionsfähigkeit des Parlaments zu gewährleisten, da sie eine Zersplitterung verhindert. Allerdings führt die Klausel dazu, dass nicht alle Stimmen gleichwertig gewichtet werden, insbesondere Stimmen für Parteien, die die Fünf-Prozent-Hürde nicht erreichen.
Das Beispiel der CSU verdeutlicht diese Problematik. Eine Sperrklausel ohne Ausnahmen könnte dazu führen, dass die CSU aufgrund ihrer Stimmenverteilung nicht im Bundestag vertreten ist, obwohl sie zusammen mit der CDU eine deutliche Mehrheit über der Fünf-Prozent-Hürde erreichen würde. Hier könnten die Kombination der Zweitstimmenergebnisse beider Parteien als milderes Mittel zur Verhinderung einer Zersplitterung dienen.
Zuvor sicherte die Grundmandatsklausel der CSU kontinuierlich einen Platz im Bundestag durch eine große Anzahl von Direktmandaten.
Gesetzgeber hat mehrere Möglichkeiten das Wahlrecht anzupassen
Laut Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat der Gesetzgeber erheblichen Spielraum bei der Umsetzung der Entscheidung. Es gibt mehrere Optionen zur Reaktion auf das Urteil bezüglich der Sperrklausel. Die Regelungen könnten angepasst werden, um Kooperationen zwischen Parteien besser zu berücksichtigen, die Höhe der Sperrklausel zu senken oder sie zusammen mit der Grundmandatsklausel beizubehalten.
Bundesverfassungsgericht schafft Übergangslösung
Bis zur nächsten Bundestagswahl im September 2025 bleibt nicht viel Zeit. Ein Jahr vor der Wahl müssen die Wahlregeln feststehen. Daher hat das Gericht eine Übergangsregelung zur Sperrklausel angeordnet. Bis eine neue Regelung in Kraft tritt, gilt die Fünf-Prozent-Hürde in Kombination mit der Grundmandatsklausel. Parteien können demnach in den Bundestag einziehen, wenn sie drei Direktmandate gewonnen haben. Die neuen Regeln zur Mandatsverteilung, die eine Sitzbeschränkung im Bundestag vorsehen, sind bereits genehmigt.
Viele Klagen in Karlsruhe
Im April wurden in Karlsruhe mehrere Klagen gegen das neue Wahlrecht verhandelt. 195 Abgeordnete aus der CDU/CSU-Fraktion, das Land Bayern, die CSU, die Linke sowie mehrere tausend Verfassungsbeschwerden waren betroffen. Um 10 Uhr wird das Urteil im Bundesverfassungsgericht verkündet.